Warum geht häusliche Gewalt uns alle an, Frau Huth?

Bei dem Stichwort häusliche Gewalt erinnere ich mich spontan an zwei Situationen, bei denen ich unfreiwillige Zuschauerin wurde. Als Studentin wohnte ich über einer Familie, bei der sich die Frau von ihrem Mann trennen wollte. Hin und wieder versuchte er nachts stark alkoholisiert, die Wohnungstür gewaltsam einzutreten. Erst wenn die Polizei kam, flüchtete er. Viele Jahre später hörte ich auf dem Nachhauseweg die Schreie einer jungen Frau, die ein junger Mann hinter sich herzog. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Die Polizei holen wollte sie aber nicht. Er ließ sie erst los und beruhigte sich, als er registrierte, dass ich nicht weitergehen würde.

In diesen Situationen wurde etwas offensichtlich, was sonst im Verborgenen geschieht, hinter geschlossenen Türen. Häusliche Gewalt geschieht im Privaten, deshalb bekommen wir von ihr so wenig mit.

Ihre Erscheinungsformen sind vielfältig und reichen von Demütigungen, Beleidigungen und Einschüchterungen über Schütteln und Schlagen bis hin zu sexueller Gewalt, in extremen Fällen sogar bis zum Tod. Dabei geht es um Macht und Kontrolle, um Abhängigkeiten und das Recht des Stärkeren.

So glaubte die Familie der jungen Frau, über sie auch gegen ihren Willen verfügen zu können, und machte den stärkeren Bruder zum Täter. Der Ehemann wurde zum Täter, indem er seine Frau und seine Kinder als seinen „Besitz“ ansah und daher die Trennungsabsicht seiner Frau nicht respektierte.

In beiden Fällen war Gewalt das Mittel, um eigene Vorstellungen durchzusetzen und über einen anderen Menschen zu verfügen. Gerade weil häusliche Gewalt so privat ist, fühlen sich Außenstehende, die etwas davon mitbekommen, so betroffen. Man kann das Ganze nicht so recht einordnen, will sich nicht in Sachen einmischen, die einen nichts angehen. Man fühlt sich hilflos und auch wütend.

Warum bleibt eine Frau bei einem Mann, wenn er sie so schlecht behandelt? Soll sie ihn doch einfach verlassen! Was sind das für Eltern, die ihren Kindern eine solche Situation zumuten? Warum will ein Bruder seine Schwester zu etwas zwingen, das sie nicht will? Außenstehende bleiben mit ihrem Unverständnis meist ratlos zurück.

Gewalt in Beziehungen entsteht häufig dadurch, dass ein Konflikt unlösbar erscheint und am Ende mit dem Recht des Stärkeren durchgesetzt wird. Nicht wenige haben das bereits im Elternhaus gelernt und mussten als Kind vielleicht dabei zusehen oder wurden damals selbst schon zum Opfer.

Einige Male schon habe ich das Thema mit Menschen aus anderen Kulturen diskutiert. Da wurde ich dann gefragt: Wie erzieht man denn sein Kind in Deutschland gut, wenn man es nicht schlagen darf? Woher soll es die Regeln wissen, wenn es nicht spürt, was es nicht darf? Bei vielen Eltern funktioniert dies aber doch recht gut: mit Liebe, mit Erklärungen und natürlich mit ganz viel Geduld.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist in unserem aufgeklärten Deutschland zwar unser Ideal, doch wenn man sich einmal mit den Details beschäftigt, sind wir in der Realität doch noch recht weit davon entfernt. Der Mann gilt noch immer als der Ernährer der Familie, auf ihm lastet diesbezüglich sicherlich ein höherer Druck als auf Frauen.

In Führungspositionen sind weit weniger Frauen als Männer vertreten, und der Verdienst in gleicher Position weicht Studien zufolge deutlich voneinander ab. Selbst in höheren Positionen bleibt in der Regel die Frau am Krankenbett des Kindes, nicht der Mann.

Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit durchzusetzen, scheint mehr denn je eine gesellschaftliche Aufgabe. Helfen kann da nur eine öffentliche Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen, wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Sprache, Kultur und Religion. Fragen Sie sich doch selbst einmal, inwieweit Sie althergebrachten Rollenmustern folgen, inwieweit Sie selbst Gewalt tolerieren und inwieweit Sie vielleicht selbst abwertende Dinge zum Kind oder zum Partner sagen.

Althergebrachte Vorstellungen, Rollenverteilungen und vielleicht auch die eigene Bequemlichkeit hindern uns eventuell daran, die Gesellschaft schneller zum Guten hin zu verändern. Wichtig wäre eine Auseinandersetzung mit moralischen Vorstellungen, Sitten und Traditionen, Rollenvorstellungen und Rollenverteilungen, Normen und Werten. Wir müssen hinsehen, Ungerechtigkeiten benennen und Lösungsmöglichkeiten auch ausprobieren.

Aber wie sensibilisiert man eine Gesellschaft für Geschlechtergerechtigkeit, friedliche Konfliktlösungen und Fairness? Indem wir einerseits Kinder von Anfang an zur Gewaltfreiheit erziehen und bei Erwachsenen da hart durchgreifen, wo sie Grenzen überschreiten. Opfer benötigen Aufklärung, Schutz vor Tätern und das Wissen um Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig sollten die Beratungsmöglichkeiten für Männer erweitert werden, die keine Täter sein wollen.

Meiner Meinung nach bräuchten wir eine Sensibilisierung dafür, wo Gewalt überhaupt beginnt und was sie ausmacht. Kinder sollten von klein auf lernen, dass es nicht darum geht, als Sieger aus einem Konflikt hervorzugehen. Denn da, wo es einen Sieger gibt, gibt es auch einen Verlierer.

Stattdessen sollten schon Kinder lernen, einen gemeinsamen Konsens zu finden, die Perspektive des anderen zu berücksichtigen und Widersprüche auch mal auszuhalten. Sie sollten Antworten auf die Fragen finden: Was kann ich tun, wenn man bei einem Problem nicht einer Meinung mit einem anderen bin, wir aber eine gemeinsame Lösung brauchen? Wie können wir einen Kompromiss finden, bei dem alle Seiten gewinnen?

Dazu gehören die Fähigkeiten, miteinander auf Augenhöhe zu diskutieren, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und faire Kompromisse zu schließen. Mehr emotionale Kompetenz täte der Gesellschaft gut.

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