Was Verletzungen verraten

Blaue Flecken, Sperma, Hautschuppen: Forensische Rechtsmediziner untersuchen Opfer von Gewalt vertraulich. Sie sichern die Spuren so detailliert, dass ein Täter auch dann noch überführt werden kann, wenn die Anzeige erst später erstattet wird.

Wenn Frauen Gewalt erfahren, ist es ratsam, die Spuren möglichst zeitnah und möglichst umfassend zu dokumentieren. Hierbei können Rechtsmediziner helfen.

Ulrike Schmidt liebt ihren Beruf, auch wenn er sie in die Abgründe menschlicher Bösartigkeiten schauen lässt. Die Freiburger Rechtsmedizinerin untersucht nicht nur tote Menschen, die vor ihr auf dem Sektionstisch liegen, sie untersucht auch lebende Opfer: verprügelte Frauen, misshandelte Kinder, vergewaltigte Jugendliche. Schmidt kann die Leiden nicht lindern, dafür sind andere Ärzte da. Aber sie kann Verletzungen erfassen und interpretieren.

Während normale Ärzte nähen, verbinden und heilen, untersuchen Rechtsmediziner wie Ulrike Schmidt Hämatome, Spermaspuren und Hautschuppen und dokumentieren sie so, dass sie später vor Gericht als Beweise dienen können. Eine wichtige Fähigkeit, denn die Bereitschaft von Gewaltopfern, sich anonym rechtsmedizinisch untersuchen zu lassen, nimmt zu.

Beweise in der Hand zu haben, kann das Machtgefälle in Beziehungen ändern. Der Täter weiß, dass das Opfer Vorkehrungen getroffen hat und die Misshandlung darlegen kann. Manchmal – wenn auch selten – schafft es ein Opfer dadurch, die Spirale häuslicher Gewalt zu durchbrechen. Und auch wenn viele Betroffene den Täter schützen, bietet die vertrauliche Spurensicherung ein niedrigschwelliges Angebot, sich zu wehren. Denn Wunden verraten viel über verborgene Taten.

„Verletzungen sind einfach spannend“, sagt Schmidt. Die hochgewachsene Frau mit den dunkelblonden kinnlangen Haaren spürt mit wachem Blick der Wirkung ihrer Worte nach. „Um herauszufinden, wie sie entstanden sind“, schiebt sie hinterher. Hier im Untersuchungsraum am Institut für Rechtsmedizin in Freiburg empfängt sie auch Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind. Die meisten kommen über die Polizei, haben auf dem Revier bereits ausgesagt und sitzen einigermaßen aufgeräumt vor ihr. Manche suchen sie aber auch allein auf, weil sie sich vertraulich untersuchen lassen wollen. Geht es um sexualisierte Gewalt, erfolgt die Untersuchung in der Universitäts-Frauenklinik. Die Betreuung dieser Patientinnen ist oft noch schwieriger.

Wie ist Ihnen das passiert?

Schmidt misst als Erstes die Körpergröße und das Gewicht der Frauen. So erfährt sie etwas über die Kraftverhältnisse der beteiligten Personen. Anschließend untersucht sie die unbekleideten Körperoberflächen – Hände, Arme, Hals. Manchmal drückt sie auch auf Stellen, die keine erkennbare Verletzung aufweisen, einfach um einschätzen zu können, ob die Frau verschiedene Schmerzen unterscheiden kann. Sie stellt dabei Fragen – immer neutral formuliert: „Wie ist Ihnen das passiert?“ Nicht: „Wann hat ihr Mann Ihnen das angetan?“ Es geht um Objektivität. Ihre Aufgabe ist es, die Wundentstehung zu interpretieren, nicht das Geschehen.

Dann bittet sie die Patienten, sich Stück für Stück auszuziehen. Durchschnittlich eine knappe Stunde benötigt Ulrike Schmidt, um ein Opfer zu versorgen. „Die Zeitspanne schwankt stark“, sagt sie. Meistens komme es nachts oder am Wochenende zu sexuellen Übergriffen und häuslicher Gewalt. Doch gerade in diesen Randzeiten arbeiteten weniger Personen in den Krankenhäusern. Schmidt lässt sich trotzdem Zeit. Je gründlicher sie untersucht, desto besser. „Wenn eine Frau mir sagt, dass ihre Brust keine Verletzungen aufweist, nehme ich darauf unter Umständen Rücksicht und untersuche sie dort nicht. Aber ich muss das dann auch vermerken“, sagt sie. Sollte es später vor Gericht heißen: „Mein Mann hat mir in die Brust gebissen“, muss sie darauf verweisen, dass sie das weder bestätigen noch widerlegen kann.

Nicht jeder Mediziner ist qua Studium und Praxiserfahrung so gut auf die Tücken der gerichtsfesten medizinischen Dokumentation vorbereitet wie Rechtsmediziner. Normale Ärzte fühlen sich damit oft überfordert. Manche lehnen Opfer akuter Gewalt als Patienten ab oder dokumentieren die Fälle nur dürftig. Es ist ein Missstand, denn zeigt das Opfer den Täter nachträglich doch noch an, sind die blauen Flecken und Würgemale verheilt.

Professionell dokumentieren

„Staatsanwälte können nichts damit anfangen, wenn in der Krankenakte nur ,multiple Hämatome’ steht. So ein Befund wird von jedem halbwegs fähigen Verteidiger im Nu zerpflückt“, sagt Schmidt. Schließlich könnte die Frau auch einfach die Treppe hinuntergefallen sein: Dann steht Aussage gegen Aussage. Meistens werden Strafverfahren bei Sexualdelikten wegen Mangels an Beweisen und fehlender Straftatbestände eingestellt. Das ist bitter für die Betroffenen. Umso wichtiger ist es, die Spuren von häuslicher Gewalt oder von einer Vergewaltigung von Profis dokumentieren zu lassen.

In den vergangenen Jahren sind viele Gewaltschutzambulanzen und Modellprojekte, die eine vertrauliche Spurensicherung anbieten, entstanden. An Standorten wie Berlin, Hamburg, München und Freiburg arbeiten rechtsmedizinische Institute eng mit Kliniken, Frauenhäusern und psychosozialen Zentren zusammen. Und die Betroffenen nehmen das Angebot der vertraulichen Spurensicherung ohne Strafanzeige an: Einzelne veröffentlichte Evaluationen von Gewaltschutzambulanzen zeigen, dass die Fallzahlen deutlich ansteigen.

Unterstützt von Kommunen

Auch Städte und Kommunen richten zunehmend entsprechende Untersuchungsstellen für Gewaltopfer ein und nehmen Geld in die Hand, um sie zu unterstützen. So hat die Gewaltschutzambulanz der Rechtsmediziner Saskia Etzold und Michael Tsokos an der Berliner Charité kürzlich eine Million Euro erhalten. Doch auch wenn einzelne Städte und Kommunen die Zusammenarbeit der Kliniken und der Rechtsmedizinischen Institute bezuschussen – von einer flächendeckenden Versorgung ist Deutschland meilenweit entfernt. Zu wenig Geld, zu wenige etablierte Strukturen, zu wenige geschulte Mediziner. Ein Missstand, den viele, die beruflich mit häuslicher und sexualisierter Gewalt zu tun haben, gerne beheben würden.

Rechtsmediziner schulen deshalb regelmäßig Klinikärzte, Gynäkologen und Hausärzte im richtigen Umgang mit Gewaltopfern. Auf diese Weise hoffen sie, in jeder Klinik einen Pool von Ärzten zu schaffen, der mit dem Thema vertraut ist. Das aber ist schwer. Denn gerade die Ärzte in den Ambulanzen, an die sich viele Betroffene wenden, müssen während ihrer Ausbildung verschiedene Abteilungen durchlaufen, sind also schnell wieder weg. Krankenpfleger hingegen sind meistens Stammpersonal und daher besser geeignet. Sogenannte Forensic Nurses sind in den USA schon seit Jahren im Einsatz und widmen sich der forensischen Untersuchung von Vergewaltigungsopfern. Jetzt schwappt der Trend auch nach Deutschland.

Bereits im Juni 2017 hat das Institut für Rechtsmedizin der Universität München zusammen mit einer Münchner Frauenklinik das deutschlandweit erste Pilotprojekt zum Thema Forensic Nursing gestartet. In fünf Seminareinheiten klärten Rechtsmediziner Pflegekräfte dabei über Rechtsgrundlagen, Gewaltformen, gerichtsverwertbare Dokumentation und traumasensible Gesprächsführung auf. Wie sich das im Alltag umsetzen lässt, soll eine Evaluation zeigen, die Ende 2018 abgeschlossen sein wird. Auch das „Netzwerk ProBeweis“, das Gewaltopfer in Niedersachsen versorgt, hat im Jahr 2015 einen Workshop zu Forensic Nursing durchgeführt. Die Universität Zürich bietet sogar einen Studiengang an.

Nicht alle Rechtsmediziner heißen diese Entwicklung gut. Spurensicherung ist aus ihrer Sicht Ärztesache. Das Achten auf Stauungsblutungen bei Würgeangriffen, die richtige Reihenfolge bei der genitalen Untersuchung bei Vergewaltigung, das Erkennen, wie alt Wunden sind – das alles sollte in Händen von Medizinern bleiben, die in Verletzungsdokumentation geschult wurden, heißt es. Claudia Bormann vom Rechtsmedizinischen Institut in München sagt dazu: „Niemand will das auf die Pfleger abschieben, aber es schadet auch nicht, wenn diese entsprechend geschult sind und den Arzt unterstützen können.“

Zeitaufwendig sind die Untersuchungen ohnehin. Auf den Kosten bleiben Rechtsmedizinische Institute, die nicht gefördert werden, häufig sitzen. Entsprechend werben wenige mit ihrem Angebot, weil sie den Betroffenen nicht 100 bis 150 Euro für die Untersuchung in Rechnung stellen wollen. In manchen Regionen Deutschlands wissen Opfer häuslicher Gewalt also gar nicht, dass es diese Möglichkeit gibt. Hausärzte sollten dann darauf hinweisen, gegebenenfalls selbst untersuchen und sich telemedizinisch beraten lassen. So ermöglicht beispielsweise das telemedizinische Portal Remed-Online, Bilder einzuschicken, die die Verletzungen durch häusliche Gewalt bei Kindern dokumentieren. Gerade in kleinen Krankenhäusern und in Hausarztpraxen auf dem Land herrscht ein großer Bedarf an rechtsmedizinischer Expertise.

Weniger Nähe als der Hausarzt

Für viele Mediziner ist es nicht einfach auszuhalten, dass die Opfer oft lange Zeit die Misshandlung leugnen, bevor sie zu einer vertraulichen Untersuchung oder einer Anzeige bereit sind. Manchmal ist Rechtsmedizinerin Ulrike Schmidt deshalb froh, dass sie nicht so viel Nähe zu den Betroffenen hat wie die Hausärzte. „Es muss schwer sein, eine Frau immer wieder aufs Neue mit blauen Flecken zu untersuchen und genau zu wissen, dass sie wieder zum Täter zurückgeht“, sagt sie. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer: Immerhin jede vierte Frau, die sich nach sexueller Gewalt in Freiburg vertraulich untersuchen ließ, hat danach Anzeige erstattet. Und dank Rechtsmedizinern wie Ulrike Schmidt glaubt man den Frauen auch vor Gericht.

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